WOYZECK-WUNDEN
Literaturperformance von Riesselmann/Amende
19. April – 05. Mai 2018, jeweils 18 Uhr, Eingang Schaubühne Lindenfels
Heiner Müllers Büchner-Preis-Rede Wunde Woyzeck ist eine Sprachgewalt, die in ihrer komplexen Verdichtung kaum zu fassen ist. Jascha Riesselmann und Olav Amende interpretieren diesen Text als ein Wortnetz, das sich mittels Cut-up zu neuen Reden, zu alternativen Realitäten umstellen lässt. Entstanden sind 15 Woyzeck-Wunden, die während der Dauer des FRAGMENT FESTIVAL BÜCHNER vom 19. April – 05. Mai 2018 jeweils 18 Uhr am Eingang der Schaubühne Lindenfels präsentiert werden.
Woyzeck-Wunden: I
1
Beim Steckenschneiden: Wie eine Maschine, vom Rausch der Planeten getrieben zu sein. Woyzeck lebt in der Kalkgrube aus Konrad Bayers geschundener Orthografie, den Blick auf die offene Landschaft, in der der Riese die Schädel der Dreiundzwanzigjährigen zählt, auf daß das erste Theater beginnt. Seine Augenlider vernarben, fahren im Eis der arkadischen Gewitter auf einem Wandbild von Runge, der Himmel ist weggeschnitten, die Sonne steht im Zenith und schief auf dem Bergwerk, dem erloschenen Schlachtfeld der neueren Geschichte Preußens. Lenz geht mit einem Text der Parzen und mit blutigen Utopien im Gepäck nach Berlin zu Kafka. Sich in die Mauer, in die Dumpfheit verbeissend steht sein Vater am Kreuzweg und rasiert seine Kriemhild, die vom Lachen geschüttelt unter der Maske von Woyzeck seine Marie quält, die als proletarisches Werkzeug für seine Ulrike Meinhof die Klosterzelle in Parma, auch seine, zersprengt.
2
Die Ermordete an die Schulter des Schutzmannes gedrückt, sehn wir sie als Tambourmajore in der Unschuld der Engel leichtfüssig von der Bühne der bürgerlichen Dramatik verschwinden, die Übelkeit ist wie geronnen, staatgeworden: Die Bevölkerung ißt aus dem Mund der immer noch schamlos bewaffneten Mörder Rosa Luxemburgs mit Furcht / Hunger die verordneten Erbsen, in den Bergen sitzend, von Guerilla mit Raketen umstellt, Heine pist für seinen Bruder, Woyzeck, ins Denkmal, wo Vitus Bering seine Hand gegen den Hund schwingt, sein Hauptmann sah den Mamaiahügel, wie ein Beginn des Stückeschreibens sein kann, riesig werden. Der Wolf, als Schatten der Geschichte der Entropie, liegt begraben in der utopielosen Weißglut Becketts, harmlos, ein Pillenknick der barbarischen Wirklichkeit unserer Vorgeschichte. In der Zeit Shakespeares war er der Hund, in der Zeit Georg Heyms der Blitz, in der Zeit Rolf Dieter Brinckmanns der Atomblitz. Für den Rechtsverkehr der Posthistoire politisch verkürzt, heißt der Wolf Stalingrad, sein Gefängnis ist Afrika; er zittert im Frost, bis ihn die Havel hat, wenn er vom Wannsee wiederkehrt oder aus Livland den Löffel davonführt, wird der Blick auf den Eingang der Zukunft blockiert; Hoffnung auf das gemeinsame Ende der Wirklichkeit lohnt sich nicht.
3
Der Hund heißt nicht mehr Woyzeck, Woyzeck ist die Wunde. Die Wunde passiert ihm mit der Geschwindigkeit der Lüge der Revolution, mit dem Panzerzug der deutschen Jäger, der kommt, mit der Herrschaft der Jungen, ihr Schnellen im Fieber, die Wunde ist vielmal offen gelegt, seit ihr Monument kein revolutionäres Element mehr ist, wenn der Ernstfall passiert haben wird, beginnt der Spießrutenlauf der Literatur. Die Auferstehung kommt, mit der Erscheinung Franz Johann Christoph. Im Pub, beim Bleigießen, habe ich die Struktur seiner abgebrochenen Genossen, eines andern Füße, gesehn, wo der Armierungssoldat seine Schwester, Marie, weiter tritt. In der Liebe zu den Gespenstern Goyas, für seinen Brudermord, oder im Warten auf Godot, noch vor der Wiederkehr des Patienten, dem kein Arzt das letzte Feuer gestillt hat, arbeitet die Geschichte den Stunden im letzten Drama schlafloser Welt, die Zukunft mit Bomben begraben, wie ihr Halsband, den Händen des Tourismus, entgegen. Vor diesem ausgeweideten Raum einer anderen Stunde, jenseits des Menschen, mag vielleicht irgendwo eine unserm Körper unbekannte Schwerkraft entstehen, vielleicht züngeln Würmer bei der Geburt einer Tochter oder Braut des Findlings, vielleicht beginnt die Kreuzung zum Paradies im Süden, vielleicht vor dem Hause, dem Bett einer Protagonistin aus Darmstadt, während Spätgeborene mit blutiger Politik die Welt verwüsten; eh ist vor dem Untergang das Warten Mühe, eins.