RANDLAGEN: MILTITZ
September 2016
Erschienen im kreuzer. 09/16.
Es zieht mich zu den Rändern dieser Stadt. Ich werde über sie schreiben, die Geschichten aus diesen Straßen teilen. Ich steige in die Tram. Meine erste Station heißt Miltitz.
In der Pappel sitzt eine Elster. In der Ferne rauscht ein Güterzug. Es ist windig und es regnet. Das Blatt meines Notizbuches wird nass. Ich stehe an der Endhaltestelle Miltitz und blicke mich um. Ein kleines schwarzes Auto rast vorüber. Die Fahrerin hört Techno. Über meinen Kopf hinweg fliegt ein gelber Hubschrauber in die Stadt. Auf nach Miltitz!
Ich wähle die falsche Richtung. Sie führt mich nach Grünau. Ein altes Paar erklärt mir den Weg. Er trägt den Regenschirm, sie hält sich an seinem Arm. Sie müssen zurück, über die kleine Brücke. Der Weg über die Brücke, darunter der Zschampert das Wasser aus dem Kulki zur Weißen Elster trägt, führt in einen kleinen Park. Dort sitzt ein Junge mit seinem Mädchen. Er hält den Regenschirm über sie, schaut auf sein Smartphone. Sie blicken zu mir. Den Fremden erkennt man hier sofort. Ich gelange in eine saubere, stille Einfamiliensiedlung, stelle mich unter einen Carport und schreibe.
Langsam spaziere ich durch die Siedlung und bin allein. Ich kann in der Mitte auf der Straße gehen. Das tat ich schon lange nicht mehr. Da kommt kein Auto. Es ist ja auch in der Woche, Nachmittag, noch dazu Sommerferien. Schau mal, ob Du überhaupt wen triffst, dachte ich mir noch in der Straßenbahn. Ich höre den gedehnten hohen Ton einer Kreissäge. Du kannst sein, wo Du willst – ob in Berlin, Zwickau, Sarajevo oder Miltitz: Du wirst eine Kreissäge hören. Auf der Geschwister-Scholl-Straße, wie die Hauptstraße heißt, ist dann schon etwas mehr los. Da muss ich wirklich auf den Fußweg wechseln. Die Häuser, die hier stehen, sind älter. Und wer hier lebt, lebt seit zwanzig, dreißig Jahren hier. Ich lege die Hand aufs Fensterbrett, schaue auf die Gardine. Das altbekannte Bild. An jedem Fenster stehen die leuchtenden Orchideenstöcke. Ich trage dieses Bild aus meiner Kindheit mit zum Bahnhof. Die Hauptstraße unterbricht ein Bahnübergang. Am Bahnübergang wartet ein einziges Auto.
Ich treffe Maik. Maik ist um die dreißig. Die dämpfende Sprache erinnert mich an frühere Freunde. Man drang nicht so richtig vor zu ihnen, aber sie luden Dich nicht aus. Maik kommt aus der Gegend. Ist in Grünau aufgewachsen. Damals waren ja alle noch drüben. Seit acht Jahren lebt er hier, direkt an der Hauptstraße; gleich hier gegenüber vom Bahnhof. Die Wohnungen sind günstig, einige sogar zweigeschossig. Arm und Reich leben nebeneinander. Die Eltern wohnen in der Nähe. In Grünau. Die Freunde sind auch hier. Der Tante-Emma-Laden ist nebenan. Da gibts auch Billard. Die Etage hat aber nicht jeden Tag geöffnet. Es ist schön ruhig hier. Der See um die Ecke. Die Anbindung zur Stadt gut. Und dann zählen wir die Verkehrsmittel auf: S-Bahn und Tram. Du hast den Bus vergessen. Aber Maik hat ja ein Auto. Eigentlich perfekt hier. Es fehlt nichts. Er braucht es nicht so groß, sagt er. Zwischendurch senkt sich die Schranke einige Male und am Übergang wartet dann immer nur ein Wagen. Warum lebst Du eigentlich in der Stadt? Keine Blechlawinen, Bagger, Sirenen und der alte bis zum Kinn tätowierte Mann mit dem silbernen Ohrstecker am linken Ohr kann hier gemütlich von seinem Rad steigen, das er nicht anschließt – wozu auch? – und in Ruhe an den Strauch um die Ecke pissen. Er setzt sich dann mir gegenüber auf die Bank und liest die Bild. Und immerzu das seichte Rauschen des Windes in den Blättern. Morgens hackst Du die Fliesen von den Wänden und gehst mittags zum Bockwurststand. Nachmittags verfugst Du die Kacheln im Keller der Villa Kontor und legst Dich abends an den See. Ich kehre zurück zu Maik, der sehr aufgeschlossen mit mir plaudert, während einige Leute zur S-Bahn eilen. Der sofort gehen und wie vom Erdboden verschluckt verschwunden sein wird, sobald meine Befragung vorüber ist. Das Einzige, was mich wirklich stört, sagt Maik, ist, dass man immer so lange an der Schranke warten muss. Und dann – ich freu mich schon, auf das, was jetzt kommt – passiert es manchmal, dass die Polizei die anhält, die noch schnell bei Rot rüber wollen. Das kann dann sehr teuer werden.
Ich denke an die beiden, die mich am Feld aufgreifen, weil ich dort die Gewächshäuser fotografiert habe. Was haben Sie da die Gewächshäuser fotografiert! Sie haben doch die Gewächshäuser fotografiert, gehen Sie! Wissen Sie, Sie haben die Gewächshäuser fotografiert, wissen Sie! Wissen Sie, kommentiert er die Vorliebe seiner Frau für den Imperativ, wissen Sie, es kommen viele Menschen hierher, die nichts Gutes wollen. Ich hatte die Gewächshäuser fotografiert, ich musste weg.
Neben mir sitzt eine ältere Dame. Backpackerin. Recht jung geblieben, finde ich. Ihr Fahrrad mit Zelttaschen und Rucksäcken voll beladen. Der Alte, der gerade seine Bild in die Jacke stopft, ist auch voll bepackt. Zwei Fahrradtaschen links und rechts am Rad, einen schweren Rucksack auf dem Rücken. Vielleicht auch ein Flaneur. Unweigerlich kommt mir der Gedanke: Was wäre, wenn auch er ohne Obdach wäre – so wie der Namenlose im Leipziger Palmengarten in der Steinnische neben der Brücke? Seine einzige Habe: Ein Fahrrad, voll beladen mit Taschen. Und ein kleines Radio, das Oldies spielte. Er war dann weg. Ich stelle mir vor, wie dieser Alte hier sich das gedacht hat: Warum in der Großstadt verfaulen? Die Leute geben nicht mehr, als hier. Ob sie dort in ihrer Busyness Dich nicht wahrnehmen, weil sie nicht anhalten dürfen, oder schlicht nicht da sind; das kommt aufs selbe raus. In meiner Fantasie ist er also raus nach Miltitz gegangen. Hier findet er ein Fleckchen, wo er Ruhe hat, vor dem Regen geschützt ist. Mit geschlossenen Augen kannst Du über die Straßen gehen.
Vielleicht kannst Du es Dir nicht vorstellen, sagt Maik. Aber der Zug stört mich schon lange nicht mehr. Den höre ich gar nicht. Ein Güterzug schießt durch den Bahnhof – eins, zwei, drei, zehn, sechzehn und fünfundzwanzig verplombte Tonnen wirbeln Dreck auf, dass es knirscht im Mund. Man gewöhnt sich an alles. Ein junger Vater führt seine Tochter über die Schienen. Vorsichtig steigt sie über die Gleise. Ihren pinken Schirm hält sie schräg. Ich sehe ein kleines Mädchen an ihrem Geburtstag vor mir, die im Regen mit ihrem neuen Regenschirm einmal um die Siedlung spazieren geht.
Ich durchquere Miltitz, suche ein Café. An einer Straße treffe ich eine Bekannte, die über mein Auftauchen völlig verdutzt ist. Du hier!
Ich betrachte das Gelände von Bell Flavors & Fragrances, die sozusagen die Tochter des einstigen Weltmarktführers in Duft und Aromastoffen Schimmel & Co. ist. Ein Lkw fährt aufs Gelände, ein Arbeiter mit seiner Brötchentüte verlässt es, zwei Jungen gehen an ihm vorüber. Kann sein, dass Du Probleme kriegst, sagt er seinem Freund, der syrischer, irakischer, libanesischer, türkischer Nationalität sein mag.
Ich gehe an Fenstern vorüber, die ein Mensch mit Psalmen ausgeschmückt hat, entdecke in einem Teich ein Fahrrad, zähle auf einem Briefkasten die »Merkel-muss-weg«-Tags (WIE VIELE WAREN ES?), lese die Einladungen des SV Grün-Weiß Miltitz an die Jugend, die Bekanntmachung des Seniorenclubs, erfahre von der Existenz einer Roland-Kaiser-Double-Show und werde von einer Frau aus dem Kosmetikladen begrüßt.
Ein Café finde ich nicht mehr. Aber noch in der Tram, auf dem Weg zurück nach Leipzig, beschließe ich: Meine nächste Station heißt Thekla.